«Es gilt, jetzt nicht lockerzulassen.»

Was sich Alt-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf für ihr Lebensende wünscht und was Pro Senectute Schweiz mit palliative.ch verbindet, lesen Sie im Interview mit unserem Chefredaktor Christian Ruch.

palliative.ch: Frau Widmer-Schlumpf, seit 2017 sind Sie Präsidentin von Pro Senectute. Welchen Stellenwert hat Palliative Care für Ihre Organisation?
Eveline Widmer-Schlumpf:
Pro Senectute ist eine Organisation, welche Seniorinnen und Senioren bei jeder Wendung des Lebens und Alterns begleitet und sich  dafür einsetzt, dass sie – sofern sie das möchten – bis zum Schluss in den eigenen vier Wänden leben können. Das bedeutet, dass man die letzte Phase des Lebens, in der man gebrechlicher und auf Betreuung und Pflege angewiesen ist, gut vorausplanen muss.

Für uns ist daher nicht nur die Palliative Care, sondern auch das Advance Care Planning ein sehr wichtiges Anliegen. Daraus ergibt sich eine wertvolle Zusammenarbeit mit Organisationen, die in der Palliative Care tätig sind, aber auch im ambulanten Betreuungs- respektive Pflegebereich.

Wir müssen aber auch festhalten, dass unsere Hauptaktivitäten in anderen Bereichen des Alters liegen. Eine Kernkompetenz der 24 kantonalen und interkantonalen Pro-Senectute-Organisationen ist die Unterstützung im Alltag in den eigenen vier Wänden. Wir sind also keine eigentliche Pflegeinstitution. Auf die Vorsorge bezogen: Wir informieren, weisen darauf hin, was möglich ist, und motivieren, sich Gedanken zum Lebensende zu machen. Wir appellieren, Angehörige in die Fragen und Wünsche ans Sterben einzubeziehen und seine Wertvorstellungen und Behandlungswünsche verbindlich zu regeln. Schliesslich sollte vermieden werden, dass Angehörige Aufgaben übernehmen müssen, die sie gar nicht bewältigen können oder sich später gar Vorwürfe machen müssen, nicht alles im Wunsch des oder der Sterbenden entschieden zu haben. Pro Senectute hat hierfür ein umfassendes Vorsorgedossier, den «Docupass», im Angebot. Diese anerkannte Gesamtlösung enthält unter anderem eine Vorlage für die Patientenverfügung sowie eine Anleitung, wie ein rechts- verbindlicher Vorsorgeauftrag erstellt werden kann. Ich bin deshalb eine grosse Befürworterin der umfassenden Vorsorgeplanung, weil nicht jeder Mensch unter Selbstbestimmung und Würde dasselbe versteht.

Umfragen zeigen, dass ungefähr 80 % der Schweizer Bevölkerung zu Hause versterben möchten – aber bei nur 20 % ist das tatsächlich der Fall. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Wer diese Phase nicht bei einer Person miterlebt hat, kann sich nur schwer ein Bild darüber machen. Viele enge Angehörige wissen nicht, wie beschwerlich die letzte Lebensphase bei hochaltrigen Menschen sein kann. Die Betreuung, die medizinische Pflege, nur schon die Begleitung eines Sterbenden sind sehr intensiv. Man kommt viel schneller an seine körperlichen wie auch psychischen Grenzen, als man denkt. Irgendwann geht die Kraft aus – oder man wird selbst krank. Daher ist es wichtig, dass sich auch die betreuungsbedürftige Person dieser Tatsache bewusst ist. Aus diesem Grund empfehlen wir, frühzeitig – und solange man noch urteilsfähig ist – mit Angehörigen und Freunden diese Fragen zu diskutieren und idealerweise zu klären.

Hat Pro Senectute mit der Absicht, alte Menschen für das Thema Lebensende zu sensibilisieren, Erfolg?
Die vielen Beratungen in allen Landesteilen durch unsere geschulten Vorsorgeexpertinnen und -experten, die Aufnahme von Pro Senectute Schweiz in die Arbeitsgruppe «Gesundheitliche Vorausplanung» des Bundesamts für Gesundheit und der Schweizerischen Akademien der Medizinischen Wissenschaften wie auch in den Vorstand von ACP Swiss, aber auch die vielen Interessierten an den Vorsorgeveranstaltungen unserer Organisationen bestätigen uns in unserer Arbeit. Wir erheben ausserdem regelmässig, wie viele Menschen eine Patientenverfügung ausgefüllt oder einen Vorsorgeauftrag erstellt haben. Wir konnten feststellen, dass auch aufgrund der Erfahrungen in der Corona- Pandemie die Nachfrage nach unserem Vorsorgedossier, dem Docupass, respektive nach einem Beratungsgespräch in einer unser 130 Beratungsstellen zugenommen hat. Es genügt vielen nicht, einfach eine Vorlage aus dem Internet herunterzuladen, sie wünschen sich auch eine umfassende Beratung.

Stichwort Corona: Wie beurteilen Sie im Nachhinein die Massnahmen in den Pflegeinstitutionen? Hat man da nicht, zum Schaden der Bewohnerinnen und Bewohner, zu sehr auf Isolation gesetzt?
Alte wie junge Menschen brauchen soziale Kontakte. Viele Institutionen haben versucht, Regeln zu finden, die diesem Bedürfnis gerecht werden. Aber heute wissen wir, dass viele der älteren Menschen unter der Isolation gelitten haben. Pro Senctute hat sich ausserdem daran gestört, dass man alle Menschen über 65 pauschal zur Gruppe der besonders gefährdeten Personen erklärt hat. Wir haben uns immer gegen diese harte Altersgrenze gewehrt. Schliesslich darf man bei der Beurteilung des Gesundheitszustands einer Person nicht ausschliesslich das kalendarische Alter als Kriterium heranziehen. Es gilt, biologische und biografische Faktoren zu berücksichtigen.

Sie erwähnten die Pflegenden. Viele von ihnen haben nach der Pandemie den Beruf gewechselt, was den Pflegenotstand verschärft. Was fordert Pro Senectute in diesem Bereich?
Wir haben die Pflegeinitiative unterstützt. Bei alten Menschen sowie chronisch und unheilbar Kranken ist gute Pflege ein unverzichtbarer Teil der Betreuung. Wir sind aber der Meinung, dass eine Unterscheidung zwischen Pflege und Betreuung nicht möglich ist, und setzen uns daher für eine gesicherte Finanzierung beider Bereiche ein. Die Pflegenden sollten sich auch Zeit für ein paar persönliche Worte nehmen dürfen. Auf Bundesebene laufen jetzt Projekte, die der Betreuung eine grössere Bedeutung beimessen.

Die Schweiz ist ein reiches Land – müsste sie nicht in die letzte Lebensphase genauso viel investieren wie in die Erste, für die wir sehr viel Geld ausgeben?
Es gibt den Verfassungsauftrag, bis zum Zeitpunkt des Todes ein Leben in Würde zu gewährleisten. Von daher sollte auch eine gute Betreuung im Alter sichergestellt und finanziert werden. Als Gesellschaft haben wir uns in der Vergangenheit sehr am Nützlichkeits- und Effizienzgedanken orientiert. Das hat der effizienten medizinischen Versorgung einen hohen Stellenwert beigemessen, sodass man heute Gefahr läuft, die Begleitung und Betreuung von älteren Menschen zu vernachlässigen. Doch angesichts des demo- grafischen Wandels und der Tatsache, dass viele Seniorinnen und Senioren allein leben, wird die Betreuung daheim an Bedeutung gewinnen. Gerade wer allein zu Hause lebt, braucht Unterstützung – sei dies durch Freiwillige oder durch geschultes Personal. Ohne Hilfe in den eigenen vier Wänden alt zu werden, entspricht in den meisten Fällen leider nicht der Realität.

Aber warum ist das Bewusstsein dafür auf politischer Ebene noch nicht ausreichend? Es haben doch auch viele Nationalrätinnen, viele Ständeräte alte Eltern …
Man hat sich zu lange darauf verlassen, dass die Betreuungsarbeit in den Familien – vor allem von den Frauen – geleistet wird. Der gesellschaftliche Wandel hat aber zur Folge, dass viele jüngere Menschen auch zeitlich nicht mehr in der Lage sind, solche Aufgaben zu übernehmen. Es gibt heute weniger Angehörige, die auf Dauer Betreuungsaufgaben übernehmen, und meistens leben diese auch nicht am selben Ort. Viele Frauen sind heute berufstätig. Der Staat kann darum die Betreuung nicht mehr einfach den Angehörigen überlassen.

Dass wir immer älter werden dürfen, ist eine grossartige Errungenschaft unserer Gesellschaft. Daher kann ich die Betrachtungsweise nicht verstehen, dass das Altwerden nur als Last für die Allgemeinheit empfunden wird. Weiter teile ich auch nicht die Meinung, dass man nur zu Hause glücklich die letzte Zeit seines Lebens verbringen kann. Es gibt Situationen und Lebensphasen, in welchen stationäre Institutionen eine bessere Umgebung sind. Massgebend ist nicht der Ort, an dem das (Pflege-)Bett steht, es sind die Menschen, die für einen da sind. Meine Mutter war in einem Pflegeheim und wurde dort sehr gut betreut. Wenn ich sie nach einem Besuch bei uns zurückbrachte, sagte sie, sie freue sich, dass ich sie nun wieder nach Hause brächte. 

Sind Sie optimistisch, dass die Forderung nach einer gesicherten Finanzierung der Betreuung Gehör finden wird?
Es braucht alles seine Zeit. Wir haben im Kanton Graubünden schon in den 90er-Jahren intensiv über Palliative Care diskutiert. Jetzt, 30 Jahre später, sind wir mit dem Palliativangebot im Kanton an einem guten Punkt angelangt. Das Bewusstsein in Bundesbern ist da, bis man aber konkrete Lösungen findet, dauert es noch etwas. Daher ist die Arbeit von Organisationen wie Pro Senectute, palliative.ch, Curaviva, Spitex Schweiz und weiteren wichtig. Es gilt, jetzt nicht lockerzulassen.
 

Sie waren in einer kantonalen Exekutive und im Bundesrat – ist es nicht ein Nachteil, dass wir 26 verschiedene Gesundheitssysteme haben?
Ich habe den Föderalismus manchmal als etwas beschwerlich, aber nicht als Nachteil empfunden. Wenn sich die Kantone auf etwas geeinigt haben, hatten diese immer eine starke Position in Bundesbern. Mit solchen Kompromiss- entscheiden konnten Dinge schliesslich schnell vorangebracht werden. Und es war eine Garantie für nachhaltige Lösungen, die nicht einfach in der nächsten Legislatur rückgängig gemacht werden konnten.

Ein ganz anderes Thema: Wie sieht Pro Senectute den Assistierten Suizid?
Pro Senectute wertet es nicht, wenn jemand mit Assistiertem Suizid oder dem sogenannten Sterbefasten aus dem Leben scheiden möchte. Jede Person hat im Rahmen eines selbstbestimmten Lebens die Freiheit, selbst zu entscheiden. Uns ist es aber auch wichtig, die Möglichkeiten der palliativen Betreuung aufzuzeigen. Unsere sehr gut ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Beratungsstellen sind bestens geschult und können entsprechend mit dieser Herausforderung umgehen und beratend zur Seite stehen.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Wie wünschen Sie sich Ihr Lebensende?
Ich möchte so lange wie möglich, das heisst solange ich mobil und selbstständig bin, mit meinem Mann daheim leben – aber wie bereits gesagt: Für mich ist nicht entscheidend, ob das Bett zu Hause steht oder in einem Pflegeheim, Spital oder Hospiz. Für mich zählt, wen ich um mich habe.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Interview zum Herunterladen

www.prosenectute.ch

Publiziert am in: News

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